Mit 165 km/h zum Heiligen Jakobus

Santiago de Compostela

Santiago de Compostela - wir sind verzaubert – Pilgerziel, Stadt des Glaubens, Hauptstadt Galiziens

Ich bin mir nicht sicher wo die Anzahl der Jakobsmuscheln pro Quatratkilometer höher ist, im Atlantik vor der Küste Galiziens oder seiner Hauptstadt, Santiago de Compostela. Für Vielfalt der Verwandlungen und Formen der Muschel in der letzteren fehlen einem die Worte. Ob als Kerze, Aschenbecher, Ohrring, Kachel, Lampe, Lichtspiel, Fächer, Käse, Pizza, Törtchen, Fußabtreter u.s.w. oder eine der die unzähligen teils einfallsreichen Ideen ihrer bildlichen Darstellung. Eigentlich jedoch ist die Jakobsmuschel ja das Symbol der Pilgerreise zu den Gebeinen des Apostel Jakobus und findet als Zeichen der Zugehörigkeit Ihren Platz als Anhänger am Rucksack der oft erschöpften und glücklichen Pilger, die endlich am Ziel ihrer vielleicht sehr persönlichen spirituellen Reise angekommen sind. Wie so oft gibt es allerlei Legenden über den Ursprung dieser Verbindung: Eine besagt, dass ein Ritter bei der Überführung der Gebeine des heiligen Jakobus ins Meer fiel und mit Muscheln bedeckt gerettet wurde. Eine andere erzählt, dass die Pilger die Muscheln als praktischen Trink- und Essnapf auf ihrer Reise nutzten. Auf jeden Fall reicht die Verbindung zwischen der Jakobsmuschel und dem Pilgerweg nach Santiago de Compostela bis ins Mittelalter zurück.

Mit 165 km/h zum Heiligen Jakobus

Unser Ankerplatz bei Vilagarcia in der Ria Arousa liegt nicht von ungefähr sehr günstig, um mit dem Zug einen Abstecher nach Santiago de Compostela zu machen. Und was soll ich sagen? Der Zug – pünktlich, sauber, schnell. Auf die Minute genau geht es los, bergauf über Brücken und durch Tunnel. Mit 165 km/h! Auf der Rückfahrt bergab werden es sogar 198 km/h. Mit Ansagen auf Galizisch, Spanisch UND Englisch! Mit funktionierenden Toiletten! Wir kommen aus dem Staunen nicht mehr heraus. Eine Strecke wie von meiner Heimatstadt Dessau nach Leipzig statt in über 60 in 25 Minuten, Sitzplatzreservierung inklusive für 4,20 EUR statt für 15 EUR. Ich komme aus Deutschland und bin den Luxus eines funktionierenden Nahverkehrs nicht mehr gewohnt. Irgendwie denke ich, ist der öffentliche Nahverkehr auch ein Zeichen dafür ist, wie ein Land mit seinen Menschen umgehen möchte. Ehe wir uns besinnen stehen wir mitten im Schmelztiegel von Mittelalter, Katholischer Kirche und modernen Tourismus.

Im Bann der Kathedrale – Wo Glaube auf Kommerz trifft

Natürlich zieht es auch uns zur Kathedrale, diesem steinernen ehrfurchtgebietenden Wahrzeichen der Stadt, das seit Jahrhunderten Pilger aus aller Welt wie Magneten anzieht. Statt Eingang sehen wir nur eine Menschenschlange, brauchen wir ein Ticket – wir haben keines, Anstehen im Regen, Rucksackkontrolle, als wären wir am Flughafen, dann endlich, es wird still und dunkel, wir sind drinnen. Die Kathedrale ist ein architektonisches Wunderwerk, einschüchternd, gewaltig, gewachsen aus verschiedensten Epochen, Gold, Verzierungen, Romanische Strenge trifft auf barocken Überschwang. Über uns wölbt sich ein Himmel aus zu Kunstwerken verwirkten Steins, durchbrochen von Fenstern, durch die das Licht wie göttliche Inspiration einfällt. Plötzlich ertönt eine Stimme über Lautsprecher: "Silencio, Silencio!" Ein Messdiener mahnt zur Ruhe. Spanier sind ein eher temperamentvolles Volk und so verstummen die Menschen nur für einen Moment, bis das Gemurmel wieder anschwillt, wie eine Welle, die sich nicht aufhalten lässt. Vor uns schlängelt sich eine endlose Menschenkette in Richtung Krypta. Irgendwo verschwindet diese rätselhaft Schlange, doch wo? Wofür nochmals anstehen? Mit Erstaunen und Verwunderung entdecken wir des Rätsels Lösung. Sie alle wollen dasselbe: die Statue des heiligen Jakobus umarmen, die über dem Altar thront. Mache nehmen den Guten fast in den Würgegriff, manche flüstern ihm leise etwas ins Ohr. Vielen scheint dies ein wichtiger, vielleicht heiliger Moment in Ihrem Leben zu sein. Ein kurzer Moment der Berührung aus dem neue Kraft, Hoffnung oder Erleichterung erwächst. Das berühmte Botafumeiro, das riesige silberne Weihrauchfass hängt im Zentrum der Kathedrale und gilt als das größte der Welt. Heute wird es nur noch zu besonderen Anlässen geschwungen, gezogen von acht rotgewandeten Männern, den Tiraboleiros. Überall in der Kathedrale stehen Beichtstühle, beschriftet mit verschiedenen Sprachen. Französisch, Polnisch, Englisch…. Nach kurzem Zögern erliege ich doch der Versuchung und mache einen Schnappschuss, der Polnische Beichtstuhl ist gerade unbesetzt und der Priester sitzt verdeckt hinter dem Beichtstuhl. Ich stelle mir vor, wie Pilger hier als letzten Teil ihrer spirituellen Erfahrung noch kniend ihre Sünden abladen, bevor sie wieder zurück in ihre Büros und Reihenhäuser fahren. Was beichtet man nach 800 Kilometern Fußmarsch? Manchmal denke ich, wir reisen alle mit unsichtbaren Rucksäcken, gefüllt mit Dingen, die wir loswerden wollen. 3800 Orgelpfeifen wölben sich über uns an gegenüberliegenden Emporen zum musikalischen Wettstreit aufgebaut. Ein barocker Klanghimmel, der die Kathedrale bei Gottesdiensten mit Musik füllt. Während wir dort sind, schweigen sie allerdings, als hielten sie den Atem an angesichts der törichten Menschenmassen, die sich durch das Kirchenschiff vorarbeiten. Gläubige, Weitgereiste, Tagestouristen, Neugierige, Beseelte, Schaulustige und Segler strömen hier durch. Es gibt kaum spirituelle Ruhe oder Raum für Andacht oder innere Einkehr. Ich werde versöhnt: Trotz des Trubels gibt es sie - Ecken der Stille in dieser Kathedrale. Kleine Kapellen, in denen Menschen auf abgenutzten Kniekissen beten, als gäbe es keine Smartphones und keine Selfie-Sticks.

Streifzüge durch eine Stadt zwischen Himmel und Erde

Nach der Kathedrale tauchen wir ein in das Labyrinth der Altstadt. Santiago ist wie ein steinernes Märchenbuch, jede Gasse erzählt eine andere Geschichte. Wir schlendern vorbei an der berühmten Bibliothek der noch berühmteren Universität. Gegründet wurde sie 1495, was sie zu einer der ältesten Universitäten Spaniens macht. Generationen von Studenten sind über diese Pflastersteine gestolpert, vielleicht nicht unähnlich den heutigen, nur mit weniger Social Media Ablenkung und dafür mehr Tinte an den Fingern. Das Hostal de los Reyes Católicos am Obradoiro-Platz zieht unsere Blicke auf sich – einst ein Pilgerhospiz, heute ein Luxushotel. Es gilt als das ältestes kontinuierlich betriebene Hotel der Welt. Seit 1499 werden hier Reisende beherbergt. Damals bekamen Pilger drei Tage freie Kost und Logis. Heute kostet eine Nacht mehr als ein durchschnittlicher Pilger in einer Woche ausgibt. Die Zeiten ändern sich, aber die Mauern bleiben dieselben. Wir finden ein kleines Café in einer Seitengasse. Nur wenige Schritte vom Hauptstrom der Touristen finden wir Ruhe und Zeit zum Durchatmen wunderbaren hügeligen Parkanlagen, dem Parque de la Alameda und den Domingos de Bonaval Park. Schließlich wollen auch eine kurze Pilgererfahrung und spazieren durch durch das Flusstal des Sarela, eine grüne Oase mitten in der Stadt. Hier, wo das Wasser leise plätschert und keine Souvenirläden die Aussicht verstellen, kann man erahnen, wie Santiago vor dem großen Pilgerboom ausgesehen haben mag.

Modernes Santiago

Auf dem Rückweg ergattern wir noch einen Schnappschuss auf die moderne Kunstszene Santiagos: Wir besuchen die Ausstellung moderner spanischer Kunst im CGAC, Centro Galego de Arte Contemporánea. Ein Kontrastprogramm zum mittelalterlichen Prunk der Kathedrale, zum Teil raumfüllende Installationen, Klangkunst, das Spiel mit der Interaktion, provokant, aufrüttelnd, manchmal verwirrend. Ein Highlight war der „Bazar der zerbrochenen Utopien“ - "Bazar de utopias rotas" (1993-2015) – ein großer Banketttisch, bedeckt mit einem "Tischtuch" aus Spiegeln. Darauf kann man verschiedene Vergehen lesen, die von EU-Ländern begangen und von Amnesty International verurteilt wurden. Das Geschirr besteht aus zerbrochenen Glasscherben mit unleserlichen Texten, daneben die Wimpel der verschiedenen Mitgliedstaaten, übrigens Deutschland und Spanien an den Stirnseiten. In der Mitte des Tisches liegt ein offener Globus, darunter ein Haufen abgetragener Kleidung, bedeckt mit einer EU-Flagge. Nicht gerade das typische Santiago-Souvenir, aber definitiv einprägsamer als jede Pilgermuschel! In "Polyphone Eye" (1997) werden Bilder von Überwachungskameras aus verschiedenen städtischen Räumen projiziert. Die Installation, ursprünglich 1997 für Ars Electronica in Linz produziert, reflektiert über Systeme zur Analyse und Kontrolle der Realität und den allmählichen Verlust der Unterscheidung zwischen öffentlicher und privater Sphäre. Ich musste schmunzeln, als ich daran dachte, wie viele Selfies von Pilgern vor der Kathedrale täglich in den sozialen Medien landen – freiwillige Selbstüberwachung in Zeiten von Instagram! Die costa-ricanische Künstlerin Priscilla Monge provoziert, prangert an und gibt ihrer Ausstellung keinen geringeren Titel als "Cuestións de vida ou morte" (Fragen von Leben und Tod). Z.B. kann man auf den Bumerangs Begriffe wie: „Bastard, Hurensohn, Hahnrei, Friss Scheisse… „ finden. Die Sonne bricht durch die Wolken, als wir wieder durch die Altstadt schlendern. Das Licht lässt den gelblichen Granit der Gebäude golden leuchten. Endlich doch noch ein Postkartenschnappschuss für uns – die Kathedrale mit roten Blumen im Vordergrund. Kein Wunder, dass Santiago auch "die goldene Stadt" genannt wird. Es ist dieses Licht, diese Steine, diese seltsame Mischung aus Heiligkeit und Menschlichkeit, die in der Luft liegt wie der Duft von Weihrauch und frischen Churros.

Pilger und Touristen – ein ungleiches Paar

In Santiago wimmelt es von Menschen. Die einen haben 800 Kilometer zu Fuß zurückgelegt, tragen Jakobsmuscheln am Rucksack und Blasenpflaster an den Füßen. Die anderen sind mit Kamera und Stadtplan bewaffnet und haben höchstens vom Hotel zur Kathedrale einen Spaziergang gemacht. Wir denken, mit über 1000 Seemeilen im Kielwasser haben wir uns einen würdigen Platz unter den Pilgern erarbeitet, auch ohne Jakobsmuschel als Talisman. Am Ende sitzen wir alle – Landpilger und Seepilger – in denselben Cafés, bestaunen dieselbe Kathedrale und fragen uns wahrscheinlich dasselbe: Was machen wir hier eigentlich? Und die Antwort ist vielleicht einfacher als gedacht: Wir leben. Mit allem, was dazugehört. Mit Killerwalen und Killerwellen. Mit Nebel und Sonnenschein. Mit Angst und Staunen. Und mit der Gewissheit, dass die nächste Geschichte schon darauf wartet, erlebt zu werden.

Galerie: Santiago de Compostela