Zwischen Nebel, Killerwalen und Killerwellen

Nebel an der Costa da Morte

Was machen wir hier eigentlich?

Ich frage mich das manchmal selbst, wenn unser Boot FRODO sich durch den Atlantik kämpft und ich mich an der Reling entlanghangele. Costa de la Muerte – Küste des Todes. Na wunderbar! Wer denkt sich solche Namen aus? Und warum segeln wir ausgerechnet hierher? Untiefen, Felsen und der ungezähmte Atlantik haben der Küste zu ihrem unrühmlichen Namen verholfen. Seit dem 14. Jahrhundert sind hier über 600 Schiffe gesunken – eine Statistik, die man als Segler lieber nicht kennen möchte. Unser Ziel ist klar: Wir müssen weiter, denn der Wetterbericht verheißt nichts Gutes. Vor den 6 Meter hohen Wellen, die hunderte Kilometer weit draußen auf dem Atlantik entstehen und am Dienstag auf uns zurollen, wollen wir uns in Sicherheit bringen. Das bedeutet, wir müssen in die erste große Ria fahren, die durch ihre vorgelagerten Inseln den angekündigten Brechern etwas entgegenzusetzen hat und in der wir uns möglichst weit hinten verstecken können, die Ria Arousa. Achtung, Fachwort! – eine "signifikante Wellenhöhe von 6 Metern". Für alle Nicht-Segler: Das bedeutet, dass ein Drittel der Wellen höher als 6 Meter sein wird. Einzelne können 10 bis 12 Meter erreichen. Stellen Sie sich vor, ein vierstöckiges Haus aus Wasser rollt auf Sie zu. Genau das.

Im Nebel der Todesküste

Und heute ausgerechnet noch dicker Küstennebel. Warme Luft vom Land wird über dem 14 Grad kalten Atlantik bis zum Taupunkt abgekühlt und hüllt die Küste in ein dichtes Weißgrau. Am Sonntag tuckern wir durch Nebel so dick, dass man ihn schneiden könnte. Die Hoffnung, dass es vor der Küste nachlässt, erfüllt sich erst kurz vor Ankunft in der Ria Arousa. Die spektakulären berühmten Kaps Galiciens, vor allem das sogenannte „Ende der Welt" – Cabo Finisterre? Unsichtbar. Dabei war dieses Kap für die Römer tatsächlich das Ende der bekannten Welt – "finis terrae". Heute endet hier nur unsere Sicht nach etwa 50 Metern im Nichts. Ab und zu taucht ein anderes Segelboot gespenstisch aus dem Grau auf und verschwindet wieder. Unser Radar hatte es mal wieder vor uns gesehen, es bleibt trotzdem gespenstisch, wie in einem Horrorfilm, nur dass wir mittendrin sind.

Jetzt auch noch das: Orca-Alarm für unser Tagesziel

Die wichtigsten Ausrüstungsgegenstände heute an Bord: unser Radar und zwei Sandeimer. Radar für die Fahrt im Nebel, und ja, ihr habt richtig gehört. Eimer mit Sand! Nicht etwa für Sandburgen am Strand, sondern man sagt, dass der Sand eventuell die Orcas vertreibt. Warum Sand? Weil die Wissenschaftler auch nicht mehr wissen als wir und verzweifelte Segler alles ausprobieren, was nicht bei drei auf den Bäumen ist. Manche schwören auf laute Metallmusik, andere auf Klopfen gegen den Rumpf. Wir setzen auf Sand – und auf Glück. Es klingt wie der Aufmacher einer Boulevardzeitung, ist aber die nackte Wahrheit. Über 800 Segelboote wurden bereits von Orcas in den letzten Jahren attackiert. Sieben sind gesunken! "Ein paar Rempler eines sechs Tonnen schweren Wals reichen aus, um das Ruderblatt abzubrechen", erklärt ein Meeresbiologe. Warum die Orcas das machen? Die Wissenschaftler zucken mit den Schultern. Spieltrieb oder Rache? Ich tippe auf Langeweile. Vielleicht ist es für sie wie für uns Menschen Bungee-Jumping – ein Adrenalinkick, wenn man das Ruderblatt eines Segelboots zum Wackeln bringt oder das Boot danach einen haken fährt. Es kommt noch dicker, die Gefahr wird real: Am 24.8.2024, dem Tag unserer Reise in die Ria Arousa, sprang plötzlich die Orca-Risikobewertung für unser Reiseziel auf ROT, und nicht irgendwo anders, nein, exakt in unserer Ria erschienen sechs neue Einträge für Orcasichtungen und Orcabegegnungen mit physischem Kontakt für den Vortag – so viele wie in keinem anderen Gebiet zuvor. Da wurde uns schon etwas mulmig zumute. Nun hieß es, einen kühlen Kopf bewahren. Wir entscheiden uns, weiterzufahren. Die Wellenfront kommt mit Sicherheit am Dienstag, Zeit abzuwarten haben wir also nicht. Orcasichtungen vom Vortag sind Geschichte, und die Orca-App zeigte bisher niemals Sichtungen im selben Gebiet an zwei aufeinanderfolgenden Tagen. Außerdem haben wir kein freistehendes Spatenruder wie viele Serien-Segelboote, sondern FRODO hat ein massives Aluminiumruder mit einer 10cm dicken und 3-fach gelagerten Achse mit Skeg. Dadurch sind wir zwar nicht unverletzbar, aber doch widerstandsfähiger im Falle einer Attacke. Wie Frodo Beutlin selbst – klein, aber zäh und mit einem Schicksal beladen, das größer ist als er selbst. Und zu guter Letzt haben wir ja noch zwei Eimer Sand aus unserer letzten Ria an Bord. Während der Weiterfahrt bleiben die Orcas Thema Nummer Eins an Bord. Wir diskutieren Fluchtstrategien, wo der Sand vielleicht am wirkungsvollsten sein könnte und üben in Gedanken das Absetzen von Mayday-Rufen.

Ankunft mit Dinner-Showprogramm

Kurz vor der Ankunft lichtet sich tatsächlich noch der Nebel und wir sehen die Felsen und vorgelagerten Inseln unserer Ria. Wir wählen eine schmale, durch Felsen und Untiefen etwas anspruchsvollere Einfahrt als Abkürzung und um der unsichtbaren Gefahr auszuweichen. Alles geht gut und wir sind heilfroh, diesmal den Orcas nicht begegnet zu sein. Vor Anker liegend gibt's Abendbrot an Deck und wie zum Ausgleich für den Orca-Schrecken ein akrobatisches Delphin-Dinner-Showprogramm. Nur wenige Meter hinter FRODO kommt eine Schule von Delfinen und vollführt Saltos, Sprünge, Paarakrobatik vom Feinsten. Anders als ihre größeren Verwandten, die Orcas, begnügen sie sich damit, uns zu unterhalten statt zu terrorisieren. Und da ist es wieder, das Gefühl das sich einstellt, wenn man segelt, irgendwann vergisst man plötzlich alle Entbehrungen und Ängste, die Seekrankheit, die Müdigkeit, die Entbehrungen des letzten Törns und ist einfach nur richtig froh, denn soetwas erlebt man nicht zu Hause am Abendbrottisch. Und genau deswegen machen wir das alles, segeln wir an Felsen vorbei durch Nebel und hoffen auf freundlich gelaunte Orkas. Das Wetter wird uns für ein paar Tage hier festhalten. Ein Highlight wird für uns der geplante Besuch der Pilgerstadt Santiago de Compostela. In der wunderschönen und bergigen Landschaft der Rias planen wir Wanderungen, Ausflüge und Besichtigungen. Die Galizier sagen übrigens, sie hätten vier Jahreszeiten – an einem Tag. Wir sind gespannt, wie viele davon wir erleben werden.

Galerie: Nebel und Delfine